6 Wir sind komplett

Dieses Warten, dieses immer daraufhin leben: wann ist es endlich soweit, wann bekommen wir ein Kind, können wir diesen Urlaub oder jenes tun oder bin ich dann vielleicht schwanger... Das macht mich verrückt.


Die letzten Tage waren sehr herausfordernd, ich war müde, kroggi und nochmal echt sehr down. Die letzte Nacht musste ich viel nachdenken. Das sind ein paar der Gedanken aus der letzten Zeit und der heutigen Nacht. 

Der Kinderwunsch schwebt über unserem Alltag und zerstört so oft die Freude an dem, was da ist und an dem was wir miteinander haben. Ein Kind zu bekommen ist unser Ziel, alles worauf wir hinarbeiten, hindenken und planen. Das kostet so viel Kraft, Freude und macht unglücklich, da es sich noch nicht erfüllt und wir nicht wissen ob es sich jemals erfüllt. Wenn nicht, sind wir dann für immer unglücklich, weil wir unser Ziel, unseren Wunsch nicht erreichen? 

Das will ich nicht!

Jonas und ich sind komplett. Wir brauchen kein Kind um komplett zu sein. Kinder würden uns erweitern, aber wir sind auch zu Zweit komplett. Das waren wir früher und das sind wir noch. Ich sage so oft zu Jonas „Du machst mich fertig“, wenn er mich „ärgert“ oder mir so viel mehr zutraut beim Renovieren etc. als ich mir zutraue oder er im Wald eine Abkürzung entdeckt hat und wir mal wieder irgendeinen Abhang runter rutschen. Und dann sagt er: „Ne ne, das heißt du machst mich komplett oder du komplementierst mich“. Und er hat recht damit. Wir beide wir sind komplett. Johanna fehlt uns aber wir sind trotzdem miteinander komplett. Sie hat uns erweitert, uns zu Eltern gemacht und wir lieben unser Kind so sehr. Aber auch wenn sie nicht bei uns ist sind wir komplett. 

Jonas und ich haben Glück miteinander. Kinder würden unser Glück noch erweitern, aber es ist nicht so, dass wir ohne Kinder kein Glück empfinden könnten und kein Glück hätten. Johanna ist ein Geschenk und ich bin dankbar für unsere Tochter, ich hätte sie gerne behalten. Wir sind dreifache Eltern,  wir durften das Glück erfahren, dass es sie gegeben hat. Ich habe den großartigsten Mann an meiner Seite und wir dürfen glücklich miteinander sein und unser Glück genießen. 

Letzte Woche war ich super niedergeschlagen als mir auf ging, dass ich mit meinen Erfahrungen aus Schwangerschaft und Geburt keine andere Schwangere ermutigen kann. Ich wollte jemandem schreiben, dass ich es so nachempfinden kann wie sie sich fühlt, mit der Übelkeit und Unsicherheit, aber dann fiel mir auf, dass ich das doch nicht schreiben kann. Wer will hören, dass seine Schwangerschaft meiner ähnelt, dass ich ähnliches erlebt und gefühlt habe. Das ist echt nicht ermutigend, so schief wie es bei uns gegangen ist. Das war mir mega schlimm. Ich bin doch auch Mama, war schwanger und habe ein Kind geboren. Aber keinem kann ich Tipps geben oder mitfühlend erzählen wie ich das erlebt habe. 
Und auch sonst weiß ich oft nicht was ich schreiben soll. Dann denke ich zurück an das was man mir so geschrieben hat als es mir so schlecht ging. Aber mal ehrlich: geholfen hat davon wenig, im Gegenteil, so Sätze wie: „Wenn du euer Kind erstmal im Arm hältst ist all die Übelkeit etc. vergessen“ sind jetzt im Nachhinein so absurd. 

Ich liebe es für Menschen da zu sein, sie zu ermutigen, etc. Aber in dem Bereich bin ich wohl echt keine Ermutigerin. Meine liebe Freundin Anna fragte mich dann warum wir eigentlich immer denken würden wir müssten andere ermutigen und uns schlecht fühlen wenn wir das nicht können. Und es stimmt, ich muss nicht immer ermutigend sein. Ich darf mich auch einfach mal von anderen ermutigen lassen und selbst auftanken statt nur zu geben, um dann an anderer Stelle wieder ermutigt andere zu ermutigen. 

Ich vermisse unsere kleine Johanna. Warum reden so wenig Menschen von ihr. Es gibt in unserem Umfeld nur eine Handvoll Menschen die ihren Namen aussprechen. Warum? Ist sie es nicht wert? Sind die Leute zu unsicher? Wollen sie uns nicht verletzen? Denken sie gar nicht an sie? Ich finde es schrecklich. Egal wo kleine Kinder sind, sie sind immer im Mittelpunkt, immer Gesprächsthema. Und unsere Johanna? Ich bin niemandem böse, denn vermutlich wissen die meisten einfach nicht wie sie mit uns umgehen sollen, aber es ist trotzdem schwer.

Ich will nicht auf „die Frau die drei Kinder verloren hat und deren Kinderwunsch sich nicht erfüllt“ reduziert werden. Ich bin doch mehr als das. Ich bin doch nicht todkrank, auch wenn es sich bei manchen Blicken von anderen so anfühlt, als würde mein Leben von diesen Ergebnissen aus Dortmund (Humangenetik) abhängen. Wahrscheinlich ist es mitfühlen, mitleiden und mitfiebern wenn Menschen immer wieder nach den Ergebnissen fragen. Aber das macht das Warten nicht besser und die Ergebnisse nicht schneller. 
Wir würden doch, wenn sie da sind, zu der uns passenden Zeit davon berichten. Und hängt von den Ergebnissen wirklich unser Glück ab, sind das die Ergebnisse die entscheiden ob wir eine glückliche oder unglückliche Zukunft haben werden? Ich geb zu, so hab ich bisher schon auch gedacht, dass von ihnen alles abhängt wie es weitergeht. Und ja sie sind für unseren Kinderwunsch wichtig. Aber sie bestimmen nicht den Rest unseres Lebensglücks und unserer Zufriedenheit. 
Heute Nacht wurde mir so bewusst, dass egal was dabei raus kommt es nicht unserer Leben als positiv oder negativ festlegt, ob es eine Zukunft gibt oder ob das Leben endet. Unser Glück hängt nicht davon ab. 

Ich mag es nicht, wenn Menschen so tun als wäre nichts gewesen, alles ignorieren wenn sie mit uns zusammen sind. Aber ich mag es auch nicht wenn alle nur wissen wollen wie die Ergebnisse sind und wie es weitergeht, wie die Perspektive auf Kinder aussieht. Das ist nicht alles was uns ausmacht und nicht das was uns bestimmt und entscheidet ob wir glücklich werden oder nicht. 
Sprecht doch mit uns über Johanna, sie ist da gewesen und sie lebt und wir haben, wenn auch nur wenige, Erfahrungen mit ihr gesammelt. Warum nicht lieber über das sprechen was da ist, als über das was noch nicht ist, als würde davon alles abhängen. Ich will auf jeden Fall nicht mehr so denken, nicht mehr so leben, in der Warteschleife, darauf wartend ob jemand sagt, dass es weitergeht oder endet. Ich möchte das leben was da ist, dort leben wo ich bin und genießen was ich habe. 
Und auch wenn mir das so klar wurde, gibt es bestimmt viele Tage an denen mir das nicht gelingen wird. Aber ich möchte es versuchen. 

Ich habe mich dazu entschieden auf Gott zu schauen und nicht auf unseren Wunsch. 

Wie bei einem Balancierbalken. Schaut man auf ihn herab, auf das Problem, den Wunsch wird man unsicher und wacklig und fällt unter Umständen sogar herunter, aber hebt man den Kopf und schaut auf einen fixen Punkt geradeaus, auf Gott, läuft man sicher. Das möchte ich tun. 

Im letzten Jahr hab ich angefangen Bibelverse in ein Buch zu schreiben, die mir in der Krise begegnet sind und mir geholfen haben. So viele Verse in der Bibel drehen sich darum, dass Gott unsere Kraft ist, uns trägt und wir nicht stark sein müssen sondern ruhig sein dürfen. So unfassbar viele. Und immer wieder entdecke ich neue. Oder Anna entdeckt sie für mich, so wie die letzten Tage. „Entsetzt euch nicht und fürchtet euch nicht! Denn der Herr, euer Gott zieht vor euch her und wird für euch kämpfen, ganz so wie er es für euch in Ägypten getan hat vor euren Augen, und in der Wüste, wo du gesehen hast, wie der Herr, dein Gott, dich getragen hat, wie ein Mann seinen Sohn trägt, auf dem ganzen Weg, den ihr zurückgelegt habt, bis ihr an diesen Ort gekommen seid (5.Mose 1,29-31)“. Was für eine schöne und ermutigende Zusage, Gott kämpft für mich und trägt mich in meinen Krisen und Herausforderungen wie ein Kind und zwar den ganzen Weg bis ins verheißene Land – mein ganzes Leben lang, bis ich bei ihm bin.

Und  es gibt so viele Verse mehr. Ich liebe diese Verse in denen Gott sagt, dass er für mich kämpft und mich trägt. In Zephanja 3,17 steht, dass unser Gott in unserer Mitte ist, ein Held der rettet, der sich über uns freuen wird, uns liebt und über uns jubeln wird. Gott ist mein Held. Und er hat mir Jonas als meinen persönlichen Helden zur Seite gestellt. Also sollte ich doch ruhig sein und mich geborgen und sicher fühlen. Rundum glücklich und ohne Angst. Gott ist mein Held der für mich kämpft, mich trägt und rettet mein Leben lang. Ich sollte der glücklichste Mensch auf der Welt sein!

Ab Montag fange ich meine neue Arbeitsstelle an. Ich dachte: das ist doch gut so als Überbrückung, dann hab ich was zu tun, kann bisschen Geld verdienen, bis wir dann ein Kind bekommen. Aber mir ist heute klar geworden, ich will die Arbeit nicht als Lückenbüßer sehen. Ich möchte sie als meinen Platz, meine Aufgabe sehen und mit ganzem Herzen tun und nicht nur als Übergang. 

Ich will nicht mehr immer nur darauf hinleben wieder schwanger zu werden und ein Kind zu bekommen. 

Nächstes Jahr ist Bundescamp von den Royal Rangern. Wenn man sich bis November anmeldet ist es günstiger. Wir wussten nicht was wir machen sollen, da ich schwanger auf keinen Fall so weit weg möchte oder will das Jonas so weit weg ist. Alles was wir für die Zukunft überlegen ist immer überschattet mit der Überlegung aber was ist wenn. Ein Kind zu bekommen ist unser großer Wunsch aber wir können so nicht leben, nicht immer alles danach orientieren, an etwas das so ungewiss ist und so wenig planbar für uns. 

Ich komme um einiges schneller an meine Grenzen als das früher der Fall war. Wir haben so viel erlebt und so viel durch gemacht und es ist auch noch nicht vorbei. Aber ich möchte es mir nicht noch schwerer machen und nur darauf schauen was wir uns wünschen aber nicht/noch nicht bekommen. Ich möchte dankbar sein für das, was wir haben und leben. Ich darf stark und mutig nach vorne gehen weil Gott für mich kämpft. 

Ich möchte das Leben mit Jonas wieder genießen und auskosten. Keine Ahnung wie gut das klappen wird. Und wie viele Rückschläge es gibt. Aber ich möchte mich immer wieder dazu entscheiden. 

Nachdem ich vor allem gestern, heute Nacht und eben beim Hundgehen so darüber nachdachte und diese Entschlüsse gefasst habe, begegnete mir eben der Vers 19 aus Habakuk 3 in einer Predigt: "Der Herr, der mächtige Gott, gibt mir Kraft! Er macht mich leichtfüßig wie eine Gazelle und lässt mich sicher über Berge schreiten". Was für eine Zusage. Gott macht mich - Tabea (deren Name Gazelle bedeutet – was ich bisher immer eher doof fand aber jetzt toll finde) leichtfüßig weil er, der mächtige Gott, mir Kraft gibt. Wie sehr wünsche ich mir diese Leichtfüßigkeit nach diesen so herausfordernden und schweren Zeiten. Danke Gott!


Tabea - 10. September 2021